Samstag, 19. Mai 2007
fromista
fand gestern beim abendessen keinen so rechten anschluss. hatte die wahl zwischen einem tisch singender franzosen (je ne comprends rien!) und der deutschen fraktion. dort wetteiferten drei unsympathische herren (ende 40, kategorie belehrende, besserwissende noergeldeutsche) um den titel "asshole of the evening". hab meinen kram gepackt, bin auf die daecher der stadt, hab gegessen und ueber das alleinsein meditiert.

anselm gruen warnt davor, das "alleinsein" mit dem "allein gelassen werden" zu verwechseln. ohne alleinsein gibt es keine ehrliche selbsterfahrung. wer den mut aufbringt wird mit seiner eigenen nacktheit konfrontiert und erlebt so eine fruchtbare einsamkeit. von dostojewski soll das wort stammen: "zeitweilige einsamkeit ist fuer einen normalen menschen wichtiger als das essen und trinken." das motiv des alleinseins ist heute mein staendiger begleiter. nach und nach kann ich das alleinsein mehr und mehr geniessen und fuehle mich nicht gleich wie ein ausgestossener. ich glaube sogar, dass es in diesem abschnitt des weges ganz besonders wichtig ist. allein. ohne das feedback der anderen. nur ich. purer als hier wird man einsamkeit wohl selten erleben.

ich laufe heute morgen gegen 6:30 uhr los. es ist noch halbdunkel und bedrohliche wolken werden durch einen heftigen wind an mir vorbeigetrieben. mir stecken die 40 km von gestern noch maechtig in den knochen. ich entschliesse mich heute zu einer kuerzeren etappe. das 25 km entfernte fromista wird mein ziel sein.

die strecke heute laesst sich in drei abschnitte teilen:
1.) zum warmlaufen die besteigung des 911m hohen tafelberges "alto mostelares"
2.) meditatives wandern zur mir selbst durch menschenleere weiten aus korn, blumen und wiesen
3.) lustwandeln entlang des alten "canal de castilla".

gleich zu beginn sind ca. 120 hoehenmeter zu ueberwinden, um so mit einem grandiosen blick auf das noch schlafende umland von castrojeriz belohnt zu werden. gleich nach dem abstieg beginnt auch gleich wieder die typische landschaft der tierra de campos. nach kurzer zeit bin ich in meiner meditiativen lauf-trance angelangt. ich gefalle mir in meiner rolle als reisender, der jeden Tag aufs neue ins ungewisse aufbricht. ich geniesse diese erfahrung, die so ganz anders ist, wie mein sonstiges leben zu hause. prompt fallen mir zeilen von bob dylan dazu ein:

...how does it feel?
how does it feel?
to be on your own
to be without a home
like a complete unknown
like a rolling stone...


das reisen kam in meinem bisherigen leben eindeutig zu kurz. es gibt einiges nachzuholen.

im folgendem finde ich einige ganz treffliche adjektive und eigenschaften in meinem grossen "wer-bin-ich?"-quiz und ergaenze meine "100 dinge, die ich vor meinem tod mindestens einmal getan haben sollte"-liste. ich laufe durch das spanische niemandsland, weit und breit ist kein mensch zu sehen, der wind peitscht mir durchs haar und ich singe aus voller kehle...

"...i want to run, i want to hide
i want to tear down the walls that hold me inside
i want to reach out and touch the flame
where the streets have no name..."


freiheit!
ich lebe gerade ungeheuer intensiv!
ich bin voll und ganz bei mir und ich kann mich gut leiden.
ich bin gar nicht so verkehrt...

nach gut 3 stunden komme ich in das 175-seelen-dorf "boadilla del camino". die doerfer der tierra de campos haben schon mal wesentlich bessere zeiten gesehen und sind unglaublich alt und zerfallen. sie muten teilweise wie bewohnte geisterstaedte an. unglaublich welche ruinen tatsaechlich noch bewohnt sind. alles wirkt irgendwie trostlos, resignierend und aufgegeben. die menschen, die mir begegnen, sind trotzdem alle sehr herzlich und gruessen mich ueberschwenglich. es gibt tatsaechlich auch eine dorfjugend. ich mache mir gedanken ueber gleiche startvoraussetzungen und chancengleichheit. ich bin froh, dass ich woanders hineingeboren wurde.

gleich nach boadilla beginnt der alte "canal de castilla", der frueher dem transport der ernte diente. heute werden nur noch die riesigen felder damit bewaessert. die landschaft ist nach wie vor eine schoenheit und voller reiner poesie. ich lustwandere zwischen vom wind aufgeschaeumten weizenmeeren und wiesen aus rotem klatschmohn. obwohl ich heute schon wesentlich langsamer als gestern gehe, drossele ich mein tempo nochmal und geniesse ausgiebig.



zur rueckenentlastung und als krafttraining habe ich mir mittlerweile ein kleines backpack-workout-programm erarbeitet. beim laufen kann ich durch das gezielte ziehen von rucksackriemen einzelne muskelpartien weiter ausdefinieren und so meinen koerper weiter staehlen. eine art mobiles fitnessstudio. die anderen pilger gucken zwar immer bloed... aber was schert das schon den "pilgerator"? hasta la vista, baby!

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